Zeitreise

Sind Zeitreisen möglich? Die Frage beschäftigt Forscher wie Wissenschafter, Science-Fiction-Schriftsteller wie Drehbuch-Autoren. Um Antwort zu finden, hab ich mich nach Kampanien begeben, die Region um Neapel, den Golf von Sorrent und die Amalfitana. Und ich habe eine Antwort gefunden. Sie lautet „ja, Zeitreisen sind möglich“! Und was man dazu braucht, ist nichts weiter als ein wenig Fantasie…..

Der Wanderweg führt quer über die sorrentinische Halbinsel zum Punta Campanella, den äußersten Punkt der Halbinsel – direkt vis a vis von Capri. Es ist ganz schön heiß, wir rasten im Schatten einer abenteuerlich verfallenen Ruine.

Ich blicke zwinselnd an den Horizont des Meeres, der keinesfalls als Linie auszumachen ist, vielmehr geht in der flimmernden Hitze das Meeresblau verwaschen in das Himmelblau über. Ein Schiff taucht auf. Wer mag das sein? Langsam ist erkennbar, dass es ein riesiges Segelschiff ist. Der Ausguck ganz oben auf dem Top blickt konzentriert auf die Meerenge zwischen Punta Campanella und Capri. Immer wieder gibt er mit Handzeichen Anweisungen an die Mannschaft, die geschäftig die gerafften Segeln immer wieder neu positioniert. Merkwürdig – warum ruft er nicht seine Anweisungen, sondern verrenkt sich schier die Arme? Süß und verlockend dringt plötzlich der Gesang der Sirenen zu mir herüber. Ich beobachte den Segler. An den Hauptmast gefesselt: Odysseus. Er windet sich in den Seilen und schreit immer wieder Anweisungen an seine Mannschaft, doch endlich beizudrehen. Doch die kümmert sich nicht um seine Rufe. Odysseus, der Held der Meere – er ist auch ein schlauer Fuchs. Oft schon wurde ihm von den Sirenen berichtet und ihrem wunderbaren Gesang. Und er weiß, dass jeder Seemann, der die Sirenen hört, den Verstand verliert und geradezu auf die gefährlichen, todbringenden Klippen steuert. Aber er musste unbedingt diesen wundersamen Gesang hören. Er wusste aber auch, dass er selbst den Verstand verlieren würde. Daher ließ er die Ohren seiner Mannschaft mit Wachs versiegeln, sodass sie weder die Sirenen noch seine Befehle hören konnten. Sich selber ließ er an den Mast binden. Und so segelt er nun an mir vorüber. Er lauscht dem lockenden Sirenengesang und kann doch sein Schiff nicht ins Unheil steuern, da seine Mannschaft seine selbstmörderischen Befehle nicht hören kann. Langsam gleitet der Segler durch die Meerenge, wird immer kleiner und verschwindet am Horizont.

Auf den Campi Flegrei bei Pozzuoli. Wir betreten La Solfatara, das „Vorzimmer zum Totenreich“ – einen Vulkankrater, aus dem immer noch überall Rauchsäulen aufsteigen. Wir setzen uns für einen kurzen Augenblick und lassen die fast gespenstische Stimmung auf uns wirken.

Hinter den Rauchschwaden, die aus einer Bodenspalte aufsteigen, können wir eine humpelnde Gestalt erkennen – schemenhaft, wir erahnen sie mehr als wir sie wirklich sehen. Das muss Hephaistos sein, der hinkende Feuergott. Hephaistos, der als Sohn des Zeus und Heras lahm geboren wurde. Seine verkrüppelten Füße haben Hera so geärgert, dass sie ihn aus Olympia warf. Seitdem ist Hephaistos der Gott des Schmiedehandwerks und des Feuers. Schon seit Jahren mit Aphrodite verheiratet, hat er sich den Solfatara-Krater als Heimstatt erwählt. Er nennt den Krater „seinen Vorsaal der Unterwelt“. Er fühlt sich wohl in dieser beklemmenden, unheimlichen Atmosphäre. Dumpf klingt der schneeweiße Boden, aus dem unentwegt helle Rauchfahnen aufsteigen, unter seinen Fußsohlen. Giftig-gelb sticht eine grelle Sonne aus einem dunkelblauen Himmel, dem jede Weite und Leichtigkeit abhanden gekommen ist. Ein penetranter Gestank nach faulen Eiern liegt über dem Land. In mehreren Erdlöchern brodelt kochender grauer Schlamm, der gleich einem Erbsenbrei im teuflischen Suppentopf Blasen schlägt. Hephaistos weiß nicht, dass seine Schmiede-Heimstatt viel später in eine antike Badeanlage verwandelt wird und noch später in Kuranstalten. Man wird man von der Heilkraft der Thermalquellen der Solfatara sprechen, „die die Nerven entspannt, die Krätze heilt, die unfruchtbare Frauen fruchtbar macht, von Kopf- und Magenschmerzen befreit, das Sehen schärft, das Erbrechen beseitigt, die Blutgeschwüre auflöst, vom Fieber mit Schaudern befreit“. Und hunderte Jahre später wird in der Solfatara dann wieder jene Stille einkehren, die zum Hades weit besser passt als das bunte Treiben in den Kuranstalten. Nur der Tourismus wird Leben zurückbringen in dieses Vorzimmer zum Totenreich. Der Vulkan wird im Ruhestand sein, und von der Rente leben, im Schatten der Steineichen, des Eukalyptus, der Ginsterbüsche. Vergessen wird dann schon der verhängnisvolle, tödliche Irrtum der Pompejaner sein, die Ähnliches über den Vesuv gedacht hatten. Denn wo auch immer Hephaistos sein Feuer schürt, fliegen Funken. Gestern, heute, morgen.

Ein wunderschöner Tag. Blauer Himmel. Es ist heiß. Wir spazieren durch die weitläufige historische Anlage, genannt Parco Archeo-logico di Baia. Dies ist also die “Stadt”, die einst die “verderbteste” des ganzen Römischen Rei-ches bezeichnet wurde.

Die Luft flimmert vor Hitze und das Blau des Meeres löst sich in unzählige Farbschattierungen auf. Die Leute tragen hier alle lange weiße Gewänder. Ihr Gang ist gemessen – ohne Hast und Eile – als würden sie nur aus reinem Vergnügen hier spazieren gehen. Und so ist es ja auch, denn Baiae ist die vergnügteste, nobelste, reichste und auch verderbteste Stadt des Römischen Reiches. Die Wege verlaufen zwischen wildem Oleander und duftenden Kräutern, die Treppen sind aus Marmor, die Gartenzäune aus edlem Metall, die Auf- und Abgänge sind flankiert von kunstvollen Statuen, in der Sonne glänzt das Gold der Paläste, funkelt das Wasser der Brunnen, schimmern die kostbarsten Stoffe und Geschmeide. Baiae, die teuerste und sündigste Meile. Alle sind hier. Die Größten und Ruhmreichsten, die Lieblinge der Götter und eines gottähnlichen Kaisers bewohnen hier ihre Paläste und Villen, genießen ihre Thermalbäder und Gärten. Männer, die ganze Provinzen besitzen, buhlen an dieser Goldküste um ein paar Morgen Land: Pompeius, Caesar, Tiberius, Nero, Cicero, Lucullus. Und eben heckt in dieser lieblichen Landschaft Nero die Ermordung seiner Mutter Agrippina aus.

Auch hier in Cuma gibt’s einen archäologischer Park. Wegen der vielen Schulklassen steigen wir zuerst hinauf zum Tempel des Apollo, der aber außer einer exquisiten Aussicht nicht viel zu bieten hat. Dann geht’s hinunter zur Grotte der Sibylle, einen über 100 Meter langen trapezförmigen Gang. Hier ist es ruhig und beschaulich. Wir betreten den dunklen, kühlen Gang.

Am Ende dieses Ganges sitzt eine uralte Frau. Sie wird Deïphobe oder auch Sybille von Cumae, die weissagende Frau, genannt. Sie ist an die 700 Jahre alt. Wer glaubt, dass das unmöglich ist, muss wissen, dass Apollo selbst bestimmt hat, dass sie 1.000 Jahre alt wird. Dieses Alter hat sie sich von Apollon aber erschlichen. Apollon wollte unbedingt, dass sie zu seiner Geliebten wird. Sie willigte unter Bedingung ein, so alt werden zu dürfen, wie ein Kehrrichthaufen Staubkörner enthält. Diese Zahl betrug eben 1.000. Obwohl sie Apollon verschmähte, erfüllte dieser ihr ihren Wunsch. Leider hat sie sich nicht gleichzeitig auch die ewige Jugend gewünscht – darum hört sie nicht auf zu altern und sitzt jetzt als verschrumpelte alte Frau vor uns. Sie weiß noch nicht, dass sie in 300 Jahren völlig eingeschrumpft sein wird und in einer von der Höhlendecke hängenden Flasche leben wird, mit dem einzigen Wunsch, endlich zu sterben. Vor ihr steht ein Schemel, auf den sich die Bittsteller vor der weisen Frau kauern müssen. Neben ihr liegen 3 Bücher. Es ist der Rest ihrer 9 Sybillinischen Bücher. Vor kurzem hatte sie alle 9 Bücher dem König Roms, Tarquinius Superbus zu einem horrenden Betrag angeboten. Der aber hat das Angebot ausgeschlagen, die Bücher zu diesem Preis zu kaufen. Da verbrannte die Sybille drei der Bücher und bot sie dem König abermals zum gleichen teuren Preis an, was dieser wiederum ablehnte. Die Sybille übergab noch drei Bücher den Flammen. Die restlichen drei offerierte sie dem König erneut zum gleichen Preis. Dieser war nachdenklich geworden und griff schließlich zu. Jetzt wartet sie auf den Boten Roms, der ihr das Geld überbringen wird und die Bücher zur Aufbewahrung im Jupitertempel auf dem Kapitol mitnehmen wird.

Der Averner-See ist auf der Landkarte zwar leicht zu finden, aber „in natura“ will die Zufahrt erst entdeckt werden. Das scheint keine Touristen-Attraktion. Keine Menschenseele ist hier zu sehen, ruhig liegt der See mit seinem dunklen Wasser vor uns.

Das also ist der Eingang zur Unterwelt. Es ist kein einziger Vogel zu sehen – auch kein anderes Tier, kein anderer Mensch. Ganz klar, jedes Lebewesen wäre durch die aufsteigenden giftigen Dämpfe dem Tode geweiht. In den See mündet ein Fluss namens Styx, der die Oberwelt von der Unterwelt trennt. In der Ferne ist eine kleine Fähre zu sehen. Auf ihr der Fährmann Charon. Er setzt gerade mit einer Seele über. Jeder weiß, das er nur jene Seelen zum Eingang der Unterwelt bringt, welche ein ordnungsgemäßes Begräbnis erhalten haben. Zudem verlangt er eine Bezahlung für seine Dienste. Seinen Lohn erhält er gewöhnlich in Form einer Münze, die man den Toten unter die Zunge legt. Da Charon unbestechlich ist, muss eine Seele, der kein Begräbnisritual zuteil geworden ist, ein Jahrhundert am Styx auf den Einlass in die Unterwelt warten, in der Hades herrscht. Vor kurzem erst ist Äneas, von der Sibylle geleitet, an diesem Gestade in das Schattenreich hinabgestiegen und hat die grässliche Höhle betreten, von der Vergil nur mit Schaudern spricht: „Eine von düsterem Pfuhl und der Wälder Schatten umschlossene, tief und klaffend sich öffnende, schroff abfallend gähnende Schlucht war’s; unverletzt wagte noch nie den Flug ein Vogel darüber, so ein giftiger Dampf entweicht dem düsteren Rachen, steigt zum Gewölbe des Himmels empor … „

Paestum. Wir stehen sozusagen mit einem Fuß im 7. Jahrhundert vor Christus. Abgesehen von ein paar Schulklassen ist es ruhig und wir können ohne Eile, Hast und Menschengedränge durch die fantastischen Tempelanlagen bummeln.

Die nackten Oberkörper der muskulösen Griechen glitzern vor Schweiß. Die Männer bedienen kühne Konstruktionen aus Baumstämmen und Seilen. Mit deren Hilfe hiefen sie gerade einen riesigen, rechteckig zugehauenen Steinblock auf zwei zierlich aussende, aber doch irgendwie solide wirkende Säulen. Der Tempfel ist zu etwa zwei Drittel fertig. Der östliche Teil ist schon komplett errichtet, der westsliche Teil wird in den nächsten Wochen und Monaten wachsen. Etwa zwanzig Männer ziehen an einem Seil, das über mehrere hölzerne Rollen läuft. Sie stöhnen von der Kraftanstrengung – der „Einpeitscher“ treibt sie in langsamen rhythmischen Rufen immer wieder an. Der Steinquader am anderen Ende bewegt sich nur zentimeterweise hoch. Wenn einer von den zwanzig Seilziehern erschöpft ist, wird er sofort durch einen neuen, ausgeruhten Mann ersetzt. Stunde um Stunde vergeht, längst sind alle zwanzig Männer mehrmals ausgewechselt. Der Steinquader schwebt nun schon über den beiden Säulen. Ist er erst mal dort angelangt, wird er Jahrtausende dort bleiben. Er wird der stumme Zeuge der Eingliederung in das römische Reich werden, der stumme Zeuge eines blühenden Zeitalters, der stumme Zeuge der Zerstörung und des Verfalls und Untergangs. Er wird 2.500 Jahre später der stumme Zeuge sein, wenn im 18. Jahrhundert die Ruinen der kleinen Stadt in den Malariasümpfen des Cilento entdeckt werden. Er wird der stumme Zeuge der Aufregung unter den europäischen “Grand Tour”-ists, den frühen europäischen Studienreisenden sein und er wird der stumme Zeuge sein, wenn vier Linzer im Jahr 2003 bei einer eher flüchtigen Besichtigung an ihm vorbeiwanderen.

Die Wanderung am „Weg der Götter“ – er führt immer in den Felsen der Steilküste entlang. Wir haben atemberaubende Blicke auf die Küstendörfer und die engen Schluchten. Wir befinden uns immer 400 bis 600 Meter über dem Meer. Der Weg ist zwar teilweise einigermaßen ausgesetzt aber nicht schwierig oder gefährlich.

Plötzlich hören wir von einem Berggipfel im Westen ein Rufen. „Viiiiiiieeetriiiiiii, Viiiiiiieeetriiiiiii“. Gegen die gleißende Sonne ist er nur undeutlich zu erkennen. Es ist Positano, der älteste Sohn der westlichen Fischerfamilie. Er ruft seine Geliebte im Osten der Lattarie-Berge. Und das Meer hört auf zu rauschen und der Wind schweigt. Wir wissen, dass dies geschieht, damit die beiden Liebenden sich hören können. Und bald darauf schallt es sehnsüchtig aus dem Osten zu uns herüber: „Poooooosiiiiitaaaaanoooooo, Poooooosiiiiitaaaaanoooooo“. Es ist Vietri, die wunderschöne Tochter der östlichen Fischerfamilie, die ihren Geliebten Positano grüßt. Sie hatten sich beim großen Sturm kennen und lieben gelernt. Die beiden Fischerfamilien waren mit ihren kleinen Booten zum Fischfang aufs Meer hinausgefahren. Der Sturm kam ganz plötzlich und überraschte sie auf dem offenen Meer. Alle Boote kenterten. Vietri und Positano wurden eng umschlungen ans Ufer gespült. Doch als das Unwetter vorüber war, mussten sie zu ihren Familien zurückkehren. Seitdem steigen die beiden jungen Leute jeden Morgen, jeden Mittag und zu jedem Sonnenuntergang auf die Berge hinauf und rufen einander beim Namen. Seit dem Tag, als ihre Liebe begann, bleibt die See ruhig, es weht nur eine sanfte Brise. Es herrscht ewiger Frühling. In dem milden Klima gedeihen seither Feigen, Zitronen, Wein und Oliven – und Rosen und Jasmin verströmen ihre betörenden Düfte. Noch wissen Positano und Vietri nicht, dass sie sich schon bald mit ihren Booten treffen werden, dass sie heiraten werden und dass sie ihre erstgeborene Tochter Amalfi taufen werden, ein Kind von so vollendeter Schönheit, dass sich Herkules in sie verlieben wird und zu ihren Ehren einer Stadt ihren Namen geben wird. „Viiiiiiieeetriiiiiii, Viiiiiiieeetriiiiiii, Poooooosiiiiitaaaaanoooooo, Poooooosiiiiitaaaaanoooooo“ hören wir nochmals sehnsuchtsvoll von den Bergen. Geduld Vietri, Geduld Positano. Bald…..

Neapel. Vom Piazza Garibaldi zur Porta Capuana und dann die Via Tribunale hinauf. Der Duomo San Genaro ist im Häusermeer versteckt. Das ist also der Dom zu Ehren des berühmten San Genaro, der ein so unrühmlich Ende gefunden hat. Im Tabernakel wird das Blut des Heiligen aufbewahrt.

Die Menge johlt in dem ovalen Amphitheater von Pozzuoli. Unglaublich, es müssen heute mindestens 40.000 Menschen gekommen sein. Das Tor öffnet sich und Gennaro, der kleine Bischof von Benevent, wird in die Arena gestoßen. Die Löwen warten schon. Die Menge kann die Angst in den Augen des Bischofs mehr erahnen als sehen. Er bleibt am Rand der Arena stehen. Er wartet. Kein Laut ist mehr in der Arena zu hören. Fast kann man bis auf die letzten Ränge hinauf seinen Atmen hören. Er wartet, dass ihn sein Schicksal ereilt. Er wartet darauf, dass die Löwen seinen Körper zerfetzen. Doch die Löwen zeigen keine Angriffslust, gelangweilt gähnen sie und scheinen sich zur Ruhe zu legen. Es wird unruhig im Amphitheater. Was ist da los? Ist das zu glauben? Die Löwen verschmähen den Leckerbissen und wollen die wartende Menge um ihr Vergnügen bringen. Die Löwen rühren sich nicht. Zehn Minuten vergehen, eine halbe Stunde ist um. Dem Stadthalter von Pozzuoli wird es jetzt zu bunt. Er hebt seine Hand und das Tor öffnet sich. Seine Schergen stürzen herein, ergreifen den Bischof, stoßen ihn auf die Knie. Der Mann mit der Kapuze hebt sein Schert und lässt es auf das Genick Gennaros niedersausen. Mit einem sauberen Schlag hat er den Bischof enthauptet. Aber die Menge jubelt nicht, sie schweigt betreten. Warum haben ihn die Löwen nicht angegriffen? Enttäuscht und mit einem mulmigen Gefühl verlassen die ersten das Theater. Haben sie eben einem Wunder beigewohnt, das allerdings für den Bischof katastrophal endete? Eine Frau läuft in die Arena hinunter. Niemand beachtet sie. Sie kniet neben dem enthaupteten Bischof nieder. Unter ihrem Gewand holt sich ein kleines Gefäß hervor und fängt das letzte aus dem toten Bischof strömende Blut auf.

Von den gar nicht gefährlich, sondern eher gelangweilt wirkenden Bewohnern bestaunt, schlendern wir durch die verwirrend vielen engen Gassen des Quariere Spagnola. Über die Galleria Umberto zur Piazza Trento Trieste und zum Teatro San Carlo.

Es ist schon dunkel geworden. Der Eingang und die Fenster der Oper sind hell erleuchtet. In gespannter Erwartung betreten wir das Theater – es ist bei Gott kein Menschengedränge – und werden zu unseren Sitzen geleitet. Wir sind offensichtlich die ersten und können seinen Auftritt kaum erwarten. Langsam kommen einige weitere Zuseher – besser gesagt Zuhörer. Aber das Theater ist höchstens zu einem Drittel voll. Es wird dunkel und der Vorhang öffnet sich. Enrico Caruso, ein kleiner Mann mit aufgezwirbeltem Schnurbart betritt die Bühne. Begleitet von Orchester beginnt er zu singen. Seine Stimme ist so rein, so strahlend, so gewaltig, dass sie aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Kaum zu glauben, dass dieser 1873 geborene Neapolitaner, Sohn einer Waschfrau und eines Straßensängers (eines von 21 Geschwistern), der noch kein einziges Buch gelesen hat und nicht einmal richtig schreiben kann, durchgehende Opernpartituren bis zur letzten Note kennt und sieben Sprachen beherrscht. Und noch unglaublicher ist, dass er ausgerechnet in Neapel nicht anerkannt und geschätzt ist, wo er doch Triumphe auf allen Bühnen der Welt, von St.Petersburg bis London, von New York bis Mexiko feiert.

Pompej. Es ist erst Viertel nach neun und daher noch ziemlich ausgestorben. Es ist noch angenehm kühl am Morgen. Ein stiller Zauber liegt über den Villen der Mysterien. Und die Mysterien-malerei erwacht vor unseren Augen zum Leben.

Eine junge Frau steht plötzlich vor uns. Ein nackter Knabe liest einer sitzenden Frau und einem verschleierten Mädchen das Ritual der Einweihung aus einer Schriftrolle vor. Eine Schwangere mit einer Opferplatte in den Händen wendet sich einer Gruppe von Frauen zu, von denen eine in Richtung der Gefolgsgötter des Dionysos einem halbnackten, auf der Leier spielenden Silen, einem Satyr und Pan blickt. Ein Silen reicht einem Knaben ein Gefäß zum Trunke, während ein weiterer Jüngling eine Maske über die Szene hält. Ein kniendes Mädchen ist dabei, einen verhüllten Phallus zu entschleiern, während ein geflügelter Dämon die Einzuweihende, die ihr Gesicht in den Schoß einer Gefährtin legt, geißelt und daneben eine nackte Baechantin tanzt. Dahinter eine Frau, die von zwei Amoretten bedient wird und neben ihr eine sitzende Frau, eine Priesterin.

Wir schlendern durch die Straßen von Pompej. Über die Via Consolare mit ihren an McDonalds-Buden erinnernden Läden, zum Haus des Tragödien-dichters, weiter zum „Lupanare“, wie das Bordell damals hieß und zu den Stabianer Thermen.

Staunend stehen wir in der großen Badeanstalt, die erst vor ein paar Jahren – nach dem großen Erdbeben im Jahr 62 – wieder instand gesetzt wurde. Das Bad ist heute gut besucht, sowohl die Abteilungen für Männer, als auch die für Frauen. Phantastisch: 3500 Quadratmeter für Ruhe, Erholung und Entspannung stehen uns hier zur Verfügung. Zusätzlich gibt’s noch hinter den Ruhe- und Umkleideräumen einen großen Hof für Gymnastik, Spiel und Sport. Alles für Wellness und Fitness. Was es heute schon alles gibt: Anlagen mit allen technischen Finessen zur Erzeugung der gewünschten Wasser- und Lufttemperaturen! Im Frigidarium, dem Kaltbad, ist sogar ein Deckengewölbe mit Fresken, die den Eindruck erwecken, dass wir uns direkt unter einem Sternenhimmel befinden – Wanddekorationen, die eine Gartenlandschaft vortäuschen. Eigentlich kann sich der alte Seneca über die Häuser haun. Hat er doch gestern einen Brief geschrieben mit lauter Verbesserungsvorschlägen. Der glaubt wohl, unser pompejanischer Luxus kann mit dem römischen Raffinement nicht Schritt halten? Typisch, diese Großstädter – alles außerhalb ihrer Hauptstadt bezeichnen sie als Provinz!

Der Weg auf den Vesuv führt über vegetationslose Lavafelder und bietet weite Ausblicke auf den Golf von Neapel. Nach 20 Minuten sind wir oben und werfen einen Blick in den riesigen Krater aus dem vereinzelt kleine Rauchsäulen aufsteigen.

Unser Blick schweift hinunter auf den Golf von Neapel. Die Orte Herculaneum, Pompeji und Stabiae stehen in Flammen. Zwei Tage ist es her, dass der Vesuv Feuer zu speien begann. Seit zwei Tagen wälzen sich die Lavaströme zu Tal. Seit zwei Tagen ist es nicht mehr richtig hell geworden. Die dunkle Wolke lässt kaum einen Sonnenstrahl durch. Soweit das Auge reicht bedeckt eine dicke Ascheschicht die Landschaft und die wenigen noch stehenden Gebäude. Mit Hilfe von Fackeln suchen Überlebende ihre Wertsachen zusammen, suchen nach ihren Familien oder fliehen aus den brennenden Häusern. Wie viele mögen im noch immer dichten Aschenregen erstickt sein? Gestern hat Plinius der Jüngere, der den Ausbruch des Vesuv beobachtet hat und dem todbringenden Ascheregen mit knapper Not entkommen ist, einem Brief an Cornelius Tacitus geschrieben: „Wir hatten den Eindruck, das Meer verschlinge sich selbst, und zwar werde es durch die Erdstöße gleichsam zurückgedrängt… Auf der anderen Seite aber ward ein schauerliches, feuerspeiendes Schwarzgewölk kreuz und quer in Schlangenlinien zerrissen und loderte schließlich in länglichen Flammengarben auf, die Blitzen glichen, aber größer waren… Kaum hatten wir uns gesetzt, so brach tiefes Dunkel herein, und zwar nicht wie in mondlosen Nächten oder bei starker Bewölkung, sondern wie in einem völlig geschlossenen Raume, wenn das Licht erlischt.“

Scroll to top