„DIE TICHLER-SAGA“ – Inhalt und Leseprobe

Pepi Tichler

Die Tichler-Saga

Mich wundert, dass ich trotzdem geboren wurde

 

ISBN 978-3-902952-26-4

Taschenbuch, 480 Seiten, 19,50 €

 

Die Zeiten, in denen unsere Vorfahren lebten, waren keine „guten alten“. Das Leben war bestimmt von Mühen, Plagen, Entbehrungen und Unsicherheiten. Eine Welt voll Gewalt, Willkür, Betrug und Gefahr. Aber auch eine Welt der Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Liebe. Der Autor erzählt die Geschichte seiner Familie in einem Zeitbogen von 700 Jahren. Vom Raum Zwettl in Niederösterreich bis zum unteren Mühlviertel und Linz.

 

LESEPROBE:

1661
Georg Tüchler

Georg Tüchler war 13, 14 oder 15 Jahre alt. So genau wusste er das nicht. Und er unternahm die absolut größte und längste Reise seines Lebens. Besser gesagt; die bisher einzige Reise. Er sollte ins Stift Zwettl fahren. Er wusste zwar nicht genau, was ein Stift ist, aber es musste etwas Großartiges ein. Der Pfarrer hatte ihn umarmt und gesagt, dass eine große Gnade über ihn kommen werde. Für einen Monat sollte er ins Stift kommen und dort würde er lesen und schreiben lernen. Naja, wofür das gut sein sollte, war ihm nicht klar, aber die Sache hatte jedenfalls etwas Gutes: er musst heute nicht arbeiten.

Solange er denken konnte, war er lange vor Sonnaufgang aufgestanden, hatte die Arbeit im Stall verrichtet und war dann nach dem Frühstück auf’s Feld oder in den Wald gegangen, wo er bis zum Abend schuftete. Er kam meist erst bei Dunkelheit zurück, versorgte die Geissen und Sauen im Stall, verzehrte das karge Abendmahl und fiel dann todmüde auf den Strohsack, um bis zum Aufstehen tief und traumlos zu schlafen. Tagein, tagaus. Nur selten kam jemand von den Nachbarn, um ihnen zu helfen – wenn schon, dann am ehesten noch bei der Ernte. Aber die Nachbarn waren genau so arm wie sie selbst und hatten genau so viel Arbeit wie sie selbst. Und so musste er mit seiner Mutter die ganze Arbeit auf dem kleinen Hof verrichten. Und nächste Woche mussten sie wie jedes Jahr die Pfingsthenn‘ abliefern. An ihren Herrn. Dabei hatten sie doch weniger Hennen als er Finger an seinen Händen hatte. Und sie würden weniger Eier haben und damit wieder weniger zu essen. Mutter hatte ihm erklärt, dass sie nicht sich selber gehörten, sondern ihrem Herrn – sie seien Leibeigene. Wer ihr Herr war, wusste er nicht. Er hatte ihn auch noch nie gesehen. Ab und zu kam jemand mit einem Fuhrwerk und verlangte Hirse, Erdäpfel, Speck und Eier. Und Mutter gab sie ihm.
Gerne hätte er einen Vater gehabt, wie andere auch. Aber Mutter hatte ihm erzählt, dass sein Vater im großen Religionskrieg, zu dem man auch Dreißigjähriger Krieg sagte, gestorben war. Von den Schweden erschlagen, die Zwettl eingenommen hatten. Aber er sei für Ihren Kaiser Ferdinand den Dritten gestorben. Und für die heilige römisch katholische Kirche. Mutter meinte, das sei aber alles sinnlos gewesen, denn man hatte Vater mitgenommen, als der Krieg schon fast zu Ende war. Mutter sagte, da hätten sie noch eine Kuh gehabt und jeden Tag frische Kuhmilch. Aber als Vater erschlagen wurde, hatte ihr Herr als Entschädigung das Besthaupt verlangt, also das beste Stück Vieh, das sie hatten. Und sie hatten ihre Kuh hergeben müssen. Der Nachbarsbua Thomas hatte zu ihm gesagt, dass Kuhmilch viel besser schmecken würde als Geissenmilch. Er glaubte das nicht, denn es gab nichts Köstlicheres als die Milch von ihren Geissen.

Heute hatte er so lange geschlafen, wie noch nie in seinem Leben. Mutter hatte ihn erst in der Morgendämmerung geweckt, er hatte eine Schüssel Milch getrunken, das bereits hart gewordene selbstgebackene Brot hinuntergewürgt und war dann von ihrem Hof in Großotten aufgebrochen nach Großschönau. Nach einer guten Stunde war er am Ziel, bei der Kirche hatte schon der Pferdewagen auf ihn gewartet mit drei Jungen drauf, die er nicht kannte. Der eine sagte er käme aus Taures, die anderen beiden aus Harmannstein. Und dann waren sie losgefahren.

Heute war sein erster Tag im Stift. Er war mit vielen anderen Burschen – mehr als er Finger an beiden Händen hatte – in den großen Raum gebracht worden. Hier waren genug Bänke und Tische für alle. Vorne hingen mehrere größere und kleinere Kugeln von der niedrigen Decke. Ein kleiner Mönch ohne Haare auf dem Kopf, aber mit dichtem Bart und lebhaften, lustigen Augen betrat den Raum. Er hatte eine lange graue Kutte an, die riesige Kapuze hing auf seinem Rücken. Er sagte, er sei Zisterziensermönch – oder so ähnlich – und sprach in einer Sprache, die für ihn nur schwer verständlich war – die Worte klangen so anders, als die Worte, die er kannte, und doch auch wieder irgendwie ähnlich. Aber Georg verstand, dass das, worauf sie lebten „Weltkugel“ oder „Erde“ genannt wurde. Und der Mönch behauptete, dass die Erde eine Kugel sei, die sich um die Sonne drehen würde. Das schien irgendwie total wichtig zu sein, denn andere hatten anscheinend bisher behauptet, dass sich die Sonne um die Erde drehen würde. Er konnte nicht verstehen, was das bedeutete, aber es musste mit den Sternen zusammenhängen, die nachts zu sehen waren.

Der Mönch schien aufgeregt zu sein. Er erzählte von einem Mann namens Galilieo Galilei, der das vor Kurzem – oder vor ein paar Jahren? – herausgefunden hatte. Er zeigte ihnen ein großes Buch – viel größer als Mutters Bibel, in der allerdings niemand lesen konnte – und sagte, dass da alles drinnen stehen würde. Das Buch hieße „Dialogo sopra i due…“ und so weiter – alles total unverständliche Worte. Aber, so meinte der Mönch, der höchste Pfaffe der Welt – er hieß Papst – würde das alles nicht glauben. Und weil Galileo gesagt hätte „und sie bewegt sich doch“ hätte der Papst ihn für immer in den Kerker geworfen. Aber der Papst sei unwissend und verblendet, meinte der Mönch. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgestoßen, fünf Soldaten stürmten herein und dahinter ein ganz schwarz gekleideter Mann. Dieser rief „Im Namen der heiligen Inquisition, ihr seid verhaftet!“

Das Wort „Inquisition“ löste in Georg’s Kopf eine ganze Reihe von Bildern aus. Er spürte wieder die alles erstickende Angst und die tiefe Verzweiflung in sich. Er sah seine Mutter vor sich, wie sie mit tränenerstickter Stimme von Ihrer Tante erzählte. Ihre Tante sei nicht ganz richtig im Kopf gewesen. Meist hätte sie mit verklärtem Blick in den Himmel gestarrt. Hätte dabei Lieder gesungen von einer unvorstellbar schönen Melodie. Und sie hätte „die Gabe“ gehabt. Wenn jemand krank geworden war, brauchte sie ihm nur ihre Hände auf die Stirn zu legen und schon begannen sich die Beschwerden zu verflüchtigen und in ein paar Stunden oder Tagen war der Kranke wieder gesund geworden. Auf gar wundersame Weise. Der Bader im Dorf unten hatte sie gehasst. Und dann seien plötzlich die heiligen Männer gekommen und hätten sie mitgenommen. Ihr wurde der Prozess gemacht. Georg wusste nicht genau, was ein Prozess war, aber es musste etwas gar fürchterliches sein. Und schließlich, so meinte Mutter, sei sie der Ketzerei für schuldig befunden worden. Wohl einfach deshalb, weil ihre Tante ja kaum sprach und sie schließlich alle nur einfache Leute waren. Man hatte sie auf einem Karren durch das Dorf gefahren und dann am Dorfplatz verbrannt. Georg traten wieder die Tränen in die Augen. Er konnte alles, was um ihn geschah, nur durch einen Schleier erkennten.

Einer der Soldaten sprang auf den Mönch zu und umschlang ihn mit seinen Armen. Ein zweiter Soldat schlug dem Mönch mit einem Knüppel auf den Kopf. Sofort floss Blut über seine Stirn. Er glitt dem Soldaten aus den Armen und stürzte zu Boden. Ein Soldat trat ihm in den Bauch. Zwei andere packten ihn schließlich an der Kutte und schleiften ihn hinaus.

Die jungen Burschen hatten verängstigt und mit offenem Mund zugesehen. Irgendwas Furchtbares schien passiert zu sein. Eilends hatte man alle Buben auf den Pferdewagen gesetzt, hatte ihnen gesagt, dass es vorbei wäre mit dem schreiben und lesen lernen und dass man sie wieder nach Hause bringen würde.

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