Das versunkene Handy

PROLOG

Der sagenumwobene Sambesi ist Afrikas viertgrößter Fluss. Sein Quellgebiet liegt in Sambia und dort macht er sich auf, auf seinen zweitausendsechshundert Kilometer langen Weg. Er durchfließt Naturparks und einzigartige Naturlandschaften, dehnt sich bald auf eine Breite von zweitausend Meter aus und stürzt sich dann als ‚Victoria Falls‘ hundert Meter in die Tiefe. Dort werden seine tosenden Wassermassen durch eine ganze Reihe von engen Schluchten und Kehren gegen die steilen Feldwände gepresst. Taitafalken und Felsenadler beobachten ihn aus ihren Horsten. Zweimal weicht jede Energie, jedes Tempo aus ihm – er wird aufgestaut. Erst nahe dem Ziel seiner Reise, in Mosambik, ist er fähig, Schiffe auf seinen Wellen zu tragen. Was er wohl alles auf seinem langen Weg einsammelt und mitnimmt – dorthin, wo er sich in den Indischen Ozean ergießt?

KAPITEL 1 – DAS ERSTE UND DRITT-LETZTE

Victoria Falls, Simbabwe. Das Frühstück ist vielfältig und hervorragend. Es hat bereits jetzt – am frühen Morgen – an die dreißig Grad. Um halb neun werden wir mit einem Bus zum gebuchten und bereits bezahlten Heli-Flug abgeholt. Der ‚Flughafen‘ besteht aus einer Holzbaracke und zwei Hubschrauber-Landestellen. Wir melden uns an, zeigen unsere Buchungsbestätigung vor. Naja, meint man, da seien noch 15 US$ pro Person fällig. Das lehnen wir auf’s Entschiedenste ab und teilen mit, dass wir schon alles bezahlt haben und dass sie uns im Übrigen buckelfünferln könnten. Wir wissen nicht, ob man das hier zur Gänze verstanden hat, aber man verzichtet die die 15 US$. Man probiert’s halt, oder?
Ein Helikopter fasst neben dem Piloten fünf Passagiere. Wir sind aber sechs. Na, meint man, es könnten auch sechs fliegen, es sei nur etwas eng. Traudi meint, es wäre doch besser, wenn wir alle gemeinsam fliegen und erklärt sich gleich bereit, als sechste mitzufliegen. Ähhh…? Wie großzügig! Als sechste wird’s ja dann nur für sie eng – für die anderen nicht – oder? Aber sie hat natürlich gemeint, dass sie mit dem Mittelplatz vorliebnimmt und auf einen Fensterplatz verzichtet. Egal, wir werden uns zu sechst hineinquetschen.

Jetzt beobachten wir erst mal das Treiben hier. Viele Ostasiaten, die sich gegenseitig fotografieren. Und sie werden vom Heli-Personal interviewt. Aha… da wird mit jeder Heli-Touristengruppe ein Film gedreht, den man anschließend erstehen kann. Reizt uns nicht besonders, aber wir machen auch die Interviews mit. Heli um Heli landet, spuckt Asiaten aus, nimmt andere auf, fliegt wieder weg. Etwa im Viertelstundenrhythmus. Pepi zischt an der improvisierten Bar ein kühles Bierchen.

Dann sind wir dran. Hopp-hopp, werden wir angetrieben, das muss alles ziemlich schnell gehen. Unsere Pilotin ist eine Schwarze, also eine Frau. Ein gehobener Job für eine Frau? Hier, mitten in Afrika? Auch nicht grade alltäglich. Wir steigen zu ihr in den Heli, kriegen die Kopfhörer überreicht, mit denen man keineswegs was hören soll, sondern das Gegenteil – nichts hören. Und schon steigen wir auf. Rasch und anstrengungslos gewinnen wir an Höhe.
Der Flug ist wunderschön und sein Geld Wert – wobei wir gar nicht mehr so genau wissen, was er eigentlich gekostet hat. Zuerst die unendliche Tiefebene mit dem spärlichen Baumbestand, der sich in einem Meer aus Inselchen auflösende, träge dahinfließende Sambesi und dann… die Schlucht. Wie eine tiefe Wunde im weichen Gestein, in die die Wassermassen stürzen und sich zum geringsten als Gischt wieder hervorwälzen. Die Schlucht weitet sich, wird gleich darauf wieder zu einem engen Riss, der sich windet, umkehrt, wieder windet, wieder umkehrt… Ein fantastisches Schauspiel. Es dauert 12 Minuten. Unmöglich, sich sattzusehen in dieser kurzen Zeit. Der Heli wendet, fliegt zurück. Dem Landeplatz entgegen.

KAPITEL 2 – DAS VORLETZTE

Unbeobachtet von Siegi und Karl, von Traudi und Pepi, von Rudi – sie sitzen alle im hinteren Bereich des Helikopters – hat sich vorne, neben der Pilotin, bei Mimi eine Tragödie abgespielt. Mimi fotografiert gerne. Und sie fotografiert gut. Sie hat natürlich ihre Fotokamera dabei. ABER… damit nicht genug – sie fotografiert auch mit ihrem Handy – doppelt hält besser. Was man hat, das hat man. ABER… in einem Hubschrauber sitzt man natürlich nicht im Freien. Man ist umgeben von „Wänden“. In diesem Fall von Glaswänden. Eigentlich hat man eine Traum-Rundumsicht. ABER… diese Glaskarosserie ist gewölbt, wirft Spiegelbilder im grellen Sonnenlicht. Das könnte – könnte – die Fotos beeinträchtigen. Helle Flecken. Spiegelflecken. Da kann man wohl nichts machen. Mimi ist ratlos. ABER… da ist seitlich eine kleine Klappe. Ein kleines Fenster im Fenster. Diese Klappe lässt sich hochheben. Man kann den Arm durchstrecken. Und wenn man in der Hand das Handy hält, kann man Fotos machen – ganz befreit von allen Spiegelungen. So nimmt Mimi ihr Handy, streckt die Hand durch die kleine Fensterklappe. ABER… es ist nicht so leicht, mit dem Handy ein Foto zu machen. Wenn man keinen Blick auf das Display hat. Wenn man also „zielen“ muss. Und gleichzeitig abdrücken. Und so passiert es. Das Handy entgleitet Mimis Hand. Begibt sich auf seine steile Reise Richtung Sambesi.

KAPITEL 3 – DAS LETZTE

Wir steigen aus dem Heli aus. Allen leuchtet die Begeisterung – bei manchen die Erleichterung – aus dem Gesicht. Bei allen? Nein, nicht bei allen. Warum ist Mimis Gesichtsausdruck so betrübt? So bedrückt? So ernst? Sieht man da…? Ja, gibt’s denn das? Sieht man da… eine Träne in einem Augenwinkel? Was ist los? Was ist passiert? Was? Das Handy? Das gibt’s doch nicht. Wie ist denn das passiert? Na, sowas. Naja, dann ist es wohl… weg. Weg. Der Sambesi wird’s weitertragen. Ist ja nichts passiert! Mit ein paar hundert Euro ist ja alles wieder repariert…

EPILOG

Mimi hatte – als sie das Foto auslöste – auf Serienaufnahme geschaltet. Das Handy hatte auf seinem langen und trudelnden Weg in die Tiefe noch siebenundzwanzig Aufnahmen gemacht. Teils vom Himmel, teils von der Erde, teils von den tiefen Schluchten des Sambesi. Als Mimis Sohn in Österreich von dem Unglück verständigt wurde, nahm er sofort eine Sicherung von Mimis Cloud-Dateien vor. So wurden nicht nur alle Fotos der Südafrika-Reise gerettet – er konnte auch jene Fotos betrachten, die Mimi noch nie zuvor gesehen hatte.

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