Achtung Kinder!

Achtung Kinder

Diese Geschichte habe ich für die Kurzkrimi-Sammlung  ‚MordsZeit 2‘. Herausgegeben 2023 von den österreichischen Krimiautoren/innen im Karina Verlag. ISBN 978-3-903161-60-3. Der Erlös geht an die Kinderkrebshilfe. Für diese Veröffentlichung musste ich meine Geschichte allerdings kürzen. Hier die ‚ganze‘ Geschichte.

Theo hatte den Auftrag bekommen, Ben, den Sprössling aus der Nister-Dynastie, zu entführen. Die Nisters waren nicht nur in Oberösterreich einflussreiche Größen. Ihre Bekanntheit musste man schon mit europaweit, wenn nicht sogar weltweit, einschätzen. Der Gründer von Nister-International war Kajetan Nister gewesen, der Urgroßvater des heutigen Aufsichts-ratvorsitzenden Dr. Markus Nister. Und der war ein Mann mit exzellenten Verbindungen und daher auch mit großem Einfluss.
Und daher war es auch für Theo einer seiner riskantesten Aufträge. Zwar wohl nicht schwierig in der Durchführung, aber hohes Strafmaß, wenn man ihn erwischte. Und vor allem: Markus Nister würde alle Hebel in Bewegung setzen, um den Entführer seines Sohnes zu finden.
Der Auftrag war von den Zinkas gekommen. Den Großeltern von Ben. Den Eltern von Markus Nisters Frau Yvonne. Sie waren nie mit der Heirat ihrer Tochter mit Dr. Markus Nister einverstanden gewesen. Die Zinkas genossen nicht den besten Ruf, wurden immer wieder mit der Halbwelt in Verbindung gebracht. Und da sie ihren Enkel Ben kaum zu Gesicht bekamen, war ihr Groll ständig angewachsen. Bis sie eben beschlossen, ihn entführen zu lassen. Von Theo.
Es war ein äußerst einträglicher Job. Über die Hintergründe wusste Theo wenig. Wusste nicht, ob es um Lösegeld ging oder ‚nur‘ um einen einfachen Kindes-entzug. Das ging ihn auch nichts an. Und er machte sich nicht viele Gedanken darüber.

Langsam rollte Theo in seinem unauffälligen Van in den kleinen Ort, unweit von Linz. Gleich nach der Ortstafel sah er das Gefahrenschild. Weißes Dreieck im roten Rahmen. Zwei laufende Kinder darin. Und darunter das Schild ‚Achtung Kinder‘. Kein Wunder. Viele Schüler hier. Im Internat. Der große langgezogene Internatsbau dominierte das Ortsbild.
Er stellte den Van ab. Blieb sitzen. Guter Blick auf den Schulpark und das schmiedeeiserne Ausgangstor. Jetzt musste Ben Zinka-Nister, der kleine Scheißer, nur noch erscheinen. Und irgendwo hinlaufen, wo er ihn gefahrlos einkassieren konnte. Und dann würde er gefesselt und geknebelt in seinem Kofferraum liegen. Ben war ihm als unbedarfter Milchbubi beschrieben worden. Fast atypisch zur heutigen Jugend. Ganz anders als die beiden 13jährigen ‚Kinder‘ aus Linz, die bereits mehrmals Raubüberfälle begangen und dabei ihre Opfer auf brutale Art verletzt hatten. Naja, Kinder sind nicht gleich Kinder. Und Ben schien ein Sanftmütiger zu sein. Eben noch ein richtiges Kind.

Theo wandte den Blick nicht ab von dem großen Eingangstor. Mehrere Kinder waren schon durchgekommen. Ben war nicht dabei gewesen. Er hatte das Foto des 13-Jährigen auf den Knien liegen. Er wartete schon fast eineinhalb Stunden. Und dann… der Bub in der roten Windbluse! Das musste er sein. Kontrollblick auf das Foto. Ja, das war er.
Theo beobachtete, wie Ben nach links und rechts schaute. Und ein Stück die Straße hinunterlief. Ben blickte sich immer wieder um und bog dann in einen kleinen Waldweg ein. Den hatte Theo noch gar nicht bemerkt.
Ja! Besser ging’s nicht. Theo stieg aus seinem Auto. Schlenderte langsam runter zum Waldweg. Na, der Kleine war ganz schön schnell. Der Weg verlief gerade. Und ganz vorne konnte er Ben noch erblicken. Wegen der roten Jacke. Theo beschleunigte seine Schritte. Verlor den roten Punkt zeitweise aus den Augen. Fand ihn aber immer wieder. Der Scheißer war zu weit voraus! Theo fing jetzt langsam zu laufen an. Wo war er? Theo lief schneller. Immer tiefer in den Wald hinein.
Er begann schon zu keuchen, als er auf eine kleine Lichtung kam. Theo sah sich um. Nirgends ein Zeichen von Ben. Verdammt! Das konnte doch nicht sein! Wo war der Bengel hin? Er fühlte keinen Schmerz mehr, als sein Kopf explodierte.

Ben lehnte den Baseball-Schläger an einen Baum. Legte zwei Finger an die Unterlippe. Pfiff. Da kamen sie schon. Sophie, Julia und Paul. Seine Freunde. Seine Gefährten.
»Hast du ihn?«, fragte Julia.
Ben deutete auf den am Boden liegenden Mann. Eine Blutlache hatte sich unter seinem Kopf gebildet. Versickerte im Waldboden.
»Weißt du, wer er ist?«, flüsterte Sophie.
»Keine Ahnung. Sah nur, wie er hinter mir herkam. Aber jetzt redet nicht rum, holt lieber die Spaten«, befahl Ben.
Ben kniete sich neben den Toten. Er fand den Ausweis. Führerschein auf Theo Retisch. Und eine Geldtasche. Mit 119 Euro. Nicht viel. Aber immerhin. Ben steckte das Geld ein. Ausweis und Geldbörse wanderten zurück in die Jeans des Toten.
Dann machten sie sich ans Werk. In einer halben Stunde hatten die Vier gemeinsam das Grab ausgehoben. Darin verschwand der Unbekannte. Das Grab zugeschüttet. Der Waldboden darüber geglättet. Insgesamt hatte alles eine gute Stunde gedauert.
»Das ist unser Vierter«, sagte Paul mit etwas zittriger Stimme, »wie viele werden wir noch schaffen?«
»Weiß nicht«, entgegnete Ben, »Vielleicht zwei oder drei?«
»Nächstes Jahr müssen wir aufhören.«
»Ja«, sagte Ben mit ein wenig trauriger Stimme, »da werden wir Vierzehn.«
»Ja, deliktsfähig. Oder strafmündig, wie man sagt.«
»Dann ist Schluss. Wir wollen uns ja nicht unser Leben versauen.«
»Auch er hat’s nicht glauben wollen«, sagte Sophie leise. Wie in einem Gebet. Wie zum Abschied von dem Toten.
»Was meinst du?«, fragte Julia.
»Na, das Verkehrszeichen. ‚Achtung Kinder‘. Auch er hat es missverstanden.«

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