Hörgeräte
„Wås håst g’sågt?“
Na gut, er spricht etwas leise. Ich frage dreimal „wås håst g’sågt?“. Statt ihn ein viertes Mal zu fragen, sage ich „Aja,…hnnn… jaja.“ Und nicke.
Ich hab‘ nicht gehört, was er gesagt hat, aber ich habe erraten, dass es keine Frage war und dass er nichts von Wichtigkeit gesagt hat. Da kriegt man Routine.
Aber so möchte ich eigentlich nicht leben.
Ich sitze mit ein paar Freunden zusammen. Die zwei mir gegenüber unterhalten sich angeregt miteinander. Natürlich verstehe ich fast alles. Jetzt, wo ich ihre Lippen und ihr Mienenspiel sehe. Aber ich hab‘ den Gesprächsanfang nicht verstanden. Verpasst. Weiß nicht genau, wovon sie reden.
Ich kann doch nicht fragen, „wovon sprecht ihr eigentlich?“ Also nehm‘ ich an dem Gespräch eben nicht teil.
Aber so möchte ich eigentlich nicht leben.
Ich sitz-liege in meinem Zimmer vor dem Fernseher. Die Tür geht auf und Traudi sagt, „kannst nicht ein wenig leiser drehen? Da dröhnt ja alles.“
Dröhnt? Wieso? Die Lautstärke ist doch eigentlich ganz normal.
Es läutet an der Wohnungstür. Der Nachbar. Er meint, ob ich nicht ein anderes Programm wählen könnte, denn den Film, den ich mir gerade anschaue, den kennt er schon.
Aber so möchte ich eigentlich nicht leben.
Ein Hörgerät muss her. Das ist ganz einfach. Es passt auch alles wunderbar. Mit den Horcherln hör ich gleich besser. „Aber“, meint mein Hörakustiker, „Sie brauchen einen Verordnungsschein für Heilbehelfe und Hilfsmittel. Von einem Ohrenarzt. Damit die Krankenkasse was dazuzahlt.“
Nun, das kann doch wirklich kein Problem sein. Auch wenn
ich diesen Schein schon in spätestens drei Wochen brauche. Ich google ‚Ohrenarzt‘, lerne, dass das HNO-Facharzt heißt. Von denen gibt’s übrigens jede Menge.
Bei den ersten beiden Anrufen hebt niemand ab.
Schon der dritte Anruf ist erfolgreich. Ja, im Dezember könnte ich einen Termin haben. Da jetzt Ende August ist, lehne ich ab.
Auf die nächsten beiden Anrufe melden sich Tonbänder, die mir erzählen, wann ich anrufen könnte. Es sind meist drei bis vier Stunden in der Woche.
Beim nächsten HNO-Arzt würde ich einen Termin im Jänner bekommen.
Und so weiter, und so weiter.
Nach einer Stunde telefonieren hab ich noch immer keinen zeitnahen Termin. Obwohl ich eh schon nur mehr Wahlärzte anrufe.
Da stoße ich auf einen HNO-Wahlarzt, dessen Tonband mir erklärt, dass die Sekretärin leider krank sei, dass ich einen Termin auch online buchen könnte. Na, dann. Die online-Buchung klappt klaglos. Ich hab einen Termin. Schon in zwei Wochen. Alles klar. Erledigt.
Heute. Beim Arzt.
Ich betrete die Ordination. Alles leer. Keine Patienten. Keine Sekretärin. Nur gähnende Leere. Etwas verunsichert stehe ich einfach so herum. Da öffnet sich die Tür und ein Schulerbub kommt auf mich zu.
„Sind Sie der Herr Tichler?“
„Ähhh… ja“, antworte ich und will schon fragen, ob denn sein Papa, der Herr Doktor, nicht da ist.
„Grüß Gott, ich bin Doktor Konstantin Opel (*)“.
Er schüttelt mir die Hand.
„Kommen Sie doch herein“, sagt der Bub, „leider ist meine…“
„…Sekretärin krank“, vervollständige ich seinen Satz, „die ist ja schon ziemlich lange krank.“
Mir ist klar, dass er gar keine Sekretärin hat. Wahrscheinlich kann er sich noch keine leisten. Und überhaupt – Schuljungen haben keine Sekretärin. Ich krieg einen Stapel Formulare zum Ausfüllen. Datenblatt, Risikohinweise, Datenschutzerklärung…
„Ich muss jetzt Ihre Daten erfassen“, informiert er mich, als ich ihm gegenüber Platz genommen habe.
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Soll ich überhaupt?
„Wissen’s… in der EDV bin ich nicht so gut…“
Ja wahrscheinlich haben sie das in der Schule noch nicht durchgenommen, denke ich. Sage es aber nicht.
„Und meine Sekretärin…“
„…ist ja krank“, ergänze ich.
„Was kann ich denn für Sie tun?“, fragt er mich nach zehn Minuten. Also nachdem er meine Daten erfasst hat.
„Ich krieg Hörgeräte. Also brauch ich einen Verordnungsschein.“
„Ahhh…“, meint er überrascht, „Sie hören schlecht?“
Er hat das blitzschnell daraus geschlossen, dass ich Hörgeräte kriege.
Ich sage „was haben Sie gesagt“ und hoffe dass er jetzt grinst. Das tut er nicht, meint aber, „na, dann schaun wir mal…“
Ich werde in einen anderen Sessel komplimentiert.
„Mund auf“, befiehlt er. Allerdings nicht bestimmend, sondern eher höflich, zögernd und fragend.
Ich mach den Mund auf. Er fährt mir mit einem Metallstangerl hinein, drückt die Zunge nach unten.
„Ahhh… keine Mandeln mehr…“
„Krchhz… krähh…“
„Na, wir haben’s eh schon.“
„Ich hab die Mandeln schon mit sechs herausgekriegt.“
„Na sowas. Jetzt schaun wir uns die Nase an.“
Er fährt mit einem leuchtenden Staberl in die Nasenlöcher.
„Ja… die Nasenscheidewand… na, rechts kriegen Sie aber nur schwer Luft.“
„Ach so, hab ich noch nie bemerkt. Nein, eigentlich nicht.“
Das lässt er unkommentiert. Was soll das eigentlich mit Nase und Mund. Er ist ja HNO, fällt mir ein, nicht nur O. Auch H und N.
„Ähhh… wegen der Mandeln …und der Scheidewand… das ist interessant… aber ich wäre eigentlich wegen der Ohren hier…“
„Jaja“, antwortet er zerstreut. „wir machen jetzt einen Hörtest.“
Ich werde in ein kleines Zimmer geführt. Krieg Kopfhörer aufgesetzt. Immer, wenn ich einen Pfeifton höre, muss ich auf eine Taste drücken. Das tue ich. Kenn ich ja eh schon vom Hörakustiker.
Als wir fertig sind, kräuselt sich seine jugendliche Stirn. „Moment“, sagt er und stürmt hinaus. Kommt wenig später zurück. Ein Lachen im Gesicht.
„Das hat geklappt“, sagt er sichtlich erleichtert. „Er“, er deutet auf den Computer, „hat eine Graphik gezeichnet.“
„Das ist ja fantastisch“, pflichte ich ihm euphorisch bei. Schließlich brauche ich ja diesen Verordnungsschein.
„Und jetzt kommt der Worttest.“
Den kenn ich natürlich auch schon. Vom Hörakustiker.
„Erst das linke Ohr“, erklärt er mir.
„Fleiss, Macht, Ei, Schloss, Kühl, Gracht…“
Ich verstehe jedes Wort und kann alles fehlerfrei wiederholen. Weil die Lautstärke viel zu hoch ist. Dann beginnt er nochmals von vorne. Geringere Lautstärke. Ich will ihn schon darauf hinweisen, dass er das verkehrt macht. Zuerst kommt die geringste Lautstärke und zum Schluss die höchste. Lass es aber lieber. Will ihn nicht verärgern. Ich brauch ja den Schein.
„Fleiss, Macht, Ei, Schloss, Kühl, Gracht…“
Verstehe alles, weil ich‘s schon kenne.
Dann nochmals von vorne. Noch leiser.
„Fleiss, Macht, Ei, Schloss, Kühl, Gracht…“
Das ist jetzt ziemlich leise. Aber, da ich’s schon zweimal gehört habe, kann ich alles fehlerfrei wiedergeben.
Er stürmt jetzt wieder hinaus. Kommt wenig später niedergeschlagen zurück. „Das hat nicht geklappt. Er hat kein Diagramm gezeichnet. Wir müssen das nochmal machen.“
„Fleiss, Macht, Ei, Schloss, Kühl, Gracht…“
Weil ich es mittlerweile auswendig kann., sag die Worte schon bevor ich sie höre. So will ich ihn subtil darauf hinweisen, dass er einen anderen Wortschatz wählen muss. Aber er ignoriert mich.
Stürmt wieder hinaus. Kommt wieder niedergeschlagen zurück. Trotzdem sagt er, „so… fertig.“
„Ähhh… das andere Ohr?“ frage ich zaghaft.
Er sagt nichts darauf, macht nur eine wegwerfende Handbewegung.
Ich sitze ihm wieder in der Ordination gegenüber. Er betrachtet das vor ihm auf dem Tisch liegende leere Datenblatt eingehend. Auf dem überhaupt keine Graphik drauf ist. Er scheint zu überlegen, was er jetzt machen soll. Dreht das Blatt einige Male hin und her. Dann zeichnet er mit Kugelschreiber zaghaft drei Ringerl ein. Verbindet sie mit zwei Linien. Nimmt den Kopf etwas zurück, als müsse er ein eben fertiggestelltes Kunstwerk aus etwas größerer Entfernung betrachten. Ich weiß vom Hörakustiker, wie diese Diagramme aussehen. Sein Blatt hat damit gar nichts zu tun.
„Na, so schlecht hören Sie eigentlich gar nicht“, sagt er dann zu meiner Überraschung. Woraus er das wohl schließt?
„Aber das mit dem Verordnungsschein…“, fährt er fort, „das geht schon in Ordnung.“